Die Einstellung zum Fieber aus psychologischer und soziologischer Sicht

In diesem Artikel geht es um das komplexe Thema des psychologischen und soziologischen Hintergrundes von Fieber, insbesondere um die negative Einstellung gegenüber Fieber.

Es stellt sich die Frage, warum viele Eltern und medizinische Fachkräfte Fieber unterdrücken, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Warum kann ein Erwachsener so schwer akzeptieren, dass ein Kind Fieber hat? Warum hat der Erwachsene selbst Schwierigkeiten mit fiebrigen Zuständen?

Die negative Einstellung gegenüber Fieber wird von zwei grundlegenden Faktoren bestimmt: einerseits von der Angst der Menschen vor Fieber und andererseits vom Streben nach Bequemlichkeit und Komfort.

 

Was ist Angst: ein Schicksalsschlag oder eine Chance?

In den letzten Jahrhunderten hat die Menschheit beispiellose Anstrengungen unternommen, um alle möglichen Quellen der Angst in uns Menschen zu beseitigen. Die moderne Medizin, ein fortschrittliches Rechtssystem, systematische Opfer zur Unterdrückung von Epidemien und zahllose andere Errungenschaften bemühen sich, uns eine sichere, angstfreie Welt zu bieten. Es scheint, dass wir alles haben, was wir brauchen, um dem "rational denkenden Menschen" zu helfen, immer seltener Angst zu haben und sich immer sicherer zu fühlen.

Es scheint jedoch, dass gerade dieser rational denkende Mensch - der Betreiber, Schöpfer und Richter - der modernen Welt trotz all dieser Entwicklungen im Bezug zur eigenen Sicherheit ängstlich bleibt. Dafür sprechen Daten aus entwickelten Konsumgesellschaften über zunehmende Fälle von Angststörungen. Fritz Riemann, ein bekannter Angstforscher, beschrieb das oben genannte Phänomen wie folgt:

"Es scheint, als hätten wir heute ein neues Leiden in unserem Leben: Wir erfahren immer mehr Arten von Angst, die aus unserem eigenen Handeln resultieren, und dass sich dieses Handeln gegen uns selbst richtet. Wir kennen die Angst vor den zerstörerischen Kräften in uns - die aus Eingriffen in natürliche Lebensprozesse resultieren. Das Machtstreben, dem es an Liebe und Demut mangelt, das Machtstreben über die Natur und das Leben, erzeugt in uns die Angst, ein manipuliertes Wesen mit einer leeren Seele zu werden. Wenn der Mensch früherer Zeiten die Naturgewalten, denen er hilflos ausgeliefert war, fürchtete und sich vor den drohenden Dämonen, den rachsüchtigen Göttern fürchtete, so müssen wir uns heute vor uns selbst fürchten."

Wer jedoch Angst vor sich selbst hat, schneidet sich praktisch von seinen eigenen inneren Ressourcen ab. Es gibt keinen anderen Weg, diese Situation zu lösen, als die aufrichtige Konfrontation mit uns selbst, mit unseren Ängsten, mit den Stationen des Lebensweges, in denen sich dieser Zustand entwickelt und verfestigt hat. Es gibt keinen anderen Weg, denn was die ständige Vermeidung von Angst motiviert, ist die Angst selbst.

Angst wird typischerweise als ein Mangel an Sicherheit oder Selbstvertrauen verstanden, aber definitiv als ein Mangel an Vollständigkeit, an Gesundheit. Angst ist eine zusätzliche Energiequelle, die hilft und alarmiert, bis die zur Lösung einer Situation erforderlichen Fähigkeiten entwickelt sind oder benötigt werden. Grad und Variationen der Angst sind entscheidend für ihre Wirkung: Solange die Angst von Neugier und Entdeckerfreude begleitet wird, haben wir es mit einer positiven Antriebskraft (Eustress) zu tun. Das ist die Aufregung des Lampenfiebers, die zu einer besseren Leistung anspornen kann. Anders verhält es sich mit stärkeren Angstzuständen (Distress): einer Angst, die zu Lähmungen führt, oder Panik, die sich in schweren körperlichen Symptomen äußert, oder einer Phobie.

Bei der Angst sind wir uns zumindest auf einer gewissen Ebene der Ursachen bewusst, auch wenn wir in vielen Fällen die wirklichen Ursachen dahinter verdrängt haben. Im Falle der Angst sind wir uns dieser Angst nicht einmal bewusst. Eine unbestimmte, scheinbar grundlose Vorahnung wird als Angst bezeichnet.

Es sind Energien, die in bestimmten Situationen in unserem Leben auftauchen und die wir freiwillig oder unfreiwillig nutzen, oder wir sind einfach in ihrer Macht gefangen. Es sind Kräfte, mit denen jeder Mensch in seinem Leben konfrontiert wird und lernen muss, damit zu leben, sie als treibende Kraft und Förderer seiner Entwicklung zu akzeptieren. Aus den belastenden Kräften der Angst entsteht zunächst der Wunsch, dann der Wille und schließlich die Tat, diese Angst in gesunde Harmonie zu verwandeln. Und das bietet die Chance, zur Ganzheit zu gelangen und ein schöpferischer, weiser und liebevoller Mensch zu werden.

 

Die soziale Präsenz der Angst im Zusammenhang mit Fieber

Lange vor der Entstehung der modernen Medizin galt das auffälligste Krankheitssymptom, das Fieber, als Ursache für Krankheit und möglichen Tod. So waren Fieber und fiebererzeugende Krankheiten nicht unterscheidbar, hohes Fieber (ohne angemessene Behandlung) wurde als schwere Krankheit angesehen. Das Absinken und die Fieberfreiheit sind ein Zeichen der Heilung, so dass sich aufgrund der Angst vor Fieber in der Gesellschaft das Bedürfnis nach Fiebersenkung entwickelt hat.

Bis Anfang der 1980er Jahre hatte sich das medizinische Wissen über Fieber grundlegend geändert. Die positive physiologische Rolle des Fiebers bei der Immunantwort auf Infektionen ist erwiesen und allgemein anerkannt. In den letzten Jahrzehnten wurde immer deutlicher, dass Fieber bis zu 40 bis 41 °C keine klinisch bewertbaren Schäden verursacht. Spontan steigt das Fieber nicht über 41,7°C an, und seine Unterdrückung verhindert keine Fieberkrämpfe.

Länder der ganzen Welt reagierten auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Tempo auf die Veränderungen im Wissen über das Fieber. In den Niederlanden beispielsweise wurden sofort Maßnahmen ergriffen, und innerhalb von 10 Jahren wurden moderne Grundsätze der Fieberbekämpfung eingeführt und das Verhalten der Bevölkerung im Umgang mit Fieber hat sich grundlegend geändert. Im Gegensatz dazu wird in Australien und den Vereinigten Staaten der Kampf gegen die Fieberphobie immer noch mit erheblichem Nachdruck geführt, und in weiten Teilen der Welt hat sich fast nichts geändert.

Furcht und fieberhemmende Gewohnheiten sind bis heute anzutreffen und beeinflussen die Einstellung und die Gewohnheiten des Gesundheitspersonals und der Laien gegenüber Fieber. Die unbegründete Angst vor Fieber, d. h. die Fieberphobie, ist ein weltweites Phänomen und bereits seit fast 40 Jahren bekannt. Die falschen Vorstellungen über Fieber und die daraus resultierenden Verhaltensmuster können auf gesellschaftlicher Ebene als hartnäckig angesehen werden, wobei sowohl Fachleute als auch Medien dabei eine wichtige Rolle spielen. In den westlichen Gesellschaften haben sich 3 Gruppen von Einstellungen zum Fieber herausgebildet:

 

  1. Diejenigen, die das Fieber als nützlich empfinden, es akzeptieren und es unterstützend begleiten: aktiv unterstützender Attitüd
  2. Diejenigen, die offen und neugierig sind und Unterstützung und Ermutigung suchen: zulassender (permissiver) Attitüd
  3. Diejenigen, die die oben genannten Gedanken ablehnen, weil ihre Haltung von Angst oder dem Streben nach Bequemlichkeit bestimmt ist: negativer (unterdrückender) Attitüd

 

Die evolutionsbiologische Wurzel der mit Fieber verbundenen Ängste

Während eines Fieberschubs führen nicht nur negative Überzeugungen und soziale Phobien, die sich im Laufe der Jahrhunderte in unserer Kultur verankert haben, zu irrationalen Wahrnehmungen, sondern auch der elterliche oder fürsorgliche Instinkt, d. h. die Angst, die die menschliche Rasse aufrechterhält. Die Betreuungsperson hat gelernt, die Symptome des Kindes instinktiv und intensiv zu beobachten (Abbildung 1).

 

Wohlbefinden

verändert (nicht wie immer), gequält, unwohl, krank, wild, weint, leidet, unruhig

Schmerzen

Kopf, Bauch, Muskeln, Gelenke, gesamter Körper

Aktivität

liegt, steht nur kurz auf, läuft kaum noch, spielt nicht mehr

Bewusstsein

nicht bekannt, kann nicht geweckt werden, schwach, Delirium

Haut

blass, gerötet, Ausschlag, Augenringe, schwitzt

Kreislauf

schneller Herzschlag, der intensiv hämmert

Atmung

atmet schnell, atmet seltsam, zieht ein, stöhnt, keucht, hustet

Wasserhaushalt

trinkt nicht, hat wenig Urin, hat Durchfall, erbricht, weint ohne Tränen

Abbildung 1. Symptome

 

Diese Symptome lösen bei den Betreuungspersonen bestimmte Gedanken und Gefühle aus. Abbildung 2 zeigt, welche Gedanken und Handlungen der Zustand des Kindes und die Lebensphänomene hervorrufen und welche Reaktionen typisch sind. Dies liegt daran, dass Gedanken (mentale Muster), Gefühle und die tatsächliche Fähigkeit zu handeln eng miteinander verbunden sind.

 

Tünetekhez köthető érzések és gondolatok skálája

Abbildung 2. Symptombezogene Skala der Gefühle, Gedanken, persönlicher Kontrolle (175)

 

Mit dem Auftreten der Symptome werden die Eltern zunächst aufmerksam und dann ängstlich. Während der Körper des Kindes daran arbeitet, sein Gleichgewicht wiederherzustellen, isst das Kind nicht, trinkt kaum, bewegt sich kaum (wie es das normalerweise beim Spielen tut) und befindet sich in einem anderen Bewusstseinszustand, ohne sich für seine Umgebung zu interessieren. Das kann dazu führen, dass die Erwachsenen in seiner Umgebung anfangen, sich Sorgen zu machen. Diese Sorge führt allmählich zu Stress, Angst und schließlich zu einer Panik aus Todesangst. "Panikreaktionen sind durch eine "Vorahnung" (Antizipation) gekennzeichnet, die sich als Angst und auch als Drang, die Situation zu vermeiden oder zu kontrollieren, äußert. In diesem "Panikzustand" genügt es, die Worte "Gefahr", "Komplikation", "schwer" auszusprechen, und eine unbewusste, innere Reaktion wird ausgelöst, die zu einer unangemessenen Fieberunterdrückung führt.

Ungewissheit - wenn der Ausgang einer Situation nur teilweise abgeschätzt werden kann - führt zu einem Gefühl der Gefahr und Angst. Wenn eine schwierige Situation eingeschätzt werden kann, lässt sie sich besser bewältigen als eine weniger schwere, aber immer noch unsichere Situation. Daher ist es wichtig, dass die Betreuungsperson eine objektivere Sicht auf die Situation bekommt. Die FeverFriend App dient dazu, dass Eltern die tatsächliche Bedeutung von Symptomen und Krankheitsanzeichen einschätzen können.

 

Anpassung an eine potenziell gefährliche Situation

Damit eine Betreuungsperson eine potenziell gefährliche Situation möglichst objektiv beurteilen kann, muss sie sich flexibel und effektiv auf die Situation einstellen. Nach dem Modell von Lazarus kann ein Ereignis, das unsere derzeitigen Ressourcen übersteigt (z. B. das erste hohe Fieber des Kindes), zu Stress und einem negativen Bewältigungsmuster führen. Daher lohnt es sich, ein solches Ereignis im Nachhinein zu bewerten: War die Situation eine echte Bedrohung oder nur eine Herausforderung? Gab es genügend Ressourcen, um die Situation zu bewältigen, und welche Form der Bewältigung ist für die Zukunft am besten geeignet? Und schließlich: Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?

Nach Antonovsky können schwierige Lebenssituationen, wie z.B. solche, die auf die Erhaltung der Gesundheit abzielen, am erfolgreichsten gelöst werden, wenn die folgenden 3 Punkte gleichzeitig erfüllt sind, denn dann ist das Kohärenzgefühl erfüllt:

Der Glaube, dass die schwierige Situation verständlich ist.

Der Glaube, dass man die Situation bewältigen kann und die richtigen inneren/äußeren Ressourcen zur Verfügung hat. Und dass es sich lohnt, die Probleme zu erleiden und zu lösen, so dass sie eher eine Herausforderung und eine Lernchance als eine Gefahr darstellen. Mit den Worten von Viktor Frankl: "Leiden hört auf, Leiden zu sein, wenn wir den Sinn darin sehen", d. h., wenn wir die positiven physiologischen und psychologischen Auswirkungen des Fiebers sehen.

Die Angst ist, wie wir gesehen haben, nicht zu unterschätzen, und sie ist auch kein Gegner. Sie kann ein Freund und Helfer sein, wenn wir ihre Gesetze kennen und respektieren. Wenn wir sie jedoch ignorieren, kann sie uns überwältigen und zu unserem Herrscher werden. Man muss die "Kampf-oder-Flucht"-Reflexe überwinden, die sie auslöst, aber man muss auch darauf achten, was sie einem zeigen will.

 

Streben nach Bequemlichkeit

Neben der Angst ist der andere bestimmende Faktor im Zusammenhang mit Fieber das Streben nach Bequemlichkeit, das sich in Sätzen wie dem folgenden erkennen lässt:

 

"Kann sich nicht ausruhen, kann nicht schlafen." "Der Arme leidet." "Er ist so weinerlich." "Es ist schwer, ihr zuzusehen, wie sie sich quält." "Wir haben keine Zeit, tagelang Fieber zu haben." "Wir sollten das Kind nicht quälen." "Ich kann es nicht ertragen, wenn es leidet." "Ich kann die Unannehmlichkeiten nicht ertragen."

 

Oft sehen wir, dass das Kind seinen fiebrigen Zustand viel besser erträgt als die fürsorglichen Eltern oder Großeltern. So kommt es oft vor, dass die Eltern das Kind zu ihrer eigenen Beruhigung behandeln - was nicht zu rechtfertigen ist.

Geben Sie niemandem Medikamente aus "Angst" oder aus übertriebener Fürsorge, denn dies kann wichtige Symptome (Fieber, Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Schmerzen) überdecken und die Diagnose und kausale Behandlung einer möglicherweise schwerwiegenderen Krankheit verzögern, die nützliche Abwehrfunktionen des Immunsystems hemmt.

Es ist wichtig zu wissen, dass das Kind während einer fiebrigen Erkrankung seine Ressourcen und Lebensvorgänge vorübergehend - sehr sinnvoll - neu ordnet. Sein Schlaf wird z.B. abends oberflächlicher, unruhiger sein, denn dann steigt das Fieber, es wird die "Brigade der Arbeit" leisten. Tagsüber erholt es sich mit reduzierter Aktivität und im Bett liegend. Es will nicht trinken, wenn das Fieber steigt, es wird durstig, wenn das Fieber seinen Höhepunkt erreicht hat und schwitzt. Das Gleiche gilt für das Essen. Die "physiologische Appetitlosigkeit" ist ein normaler Bestandteil des Fiebers. Das Kind verbraucht vorübergehend seine Reserven. Es holt sie nach, wenn die Krankheit abgeklungen ist.

Stärken sie ihr Vertrauen, während sie gleichzeitig die Vorteile des Fiebers erkennen. Wie ein Sportler, der nur trainiert, nur kämpft. Lesen Sie dazu das Kapitel "Unterstützende Pflege, die Sie bei Fieber anbieten können".

 

Ich wünsche Ihnen und Ihrem Kind gutes Üben mit Fieber!

Die Nummern in Klammern im Dokument finden Sie in der Literatur. hier: Literaturverzeichnis